13 Februar 1997

Fünfte Reise

Adlerfrau wanderte durch eine Landschaft, die sie an ihre Heimat erinnerte, aber es war alles grün wie im Sommer. Während sie noch im Gehen um sich blickte, war sie auch schon an dem kleinen Hügel angekommen, und auch er war grün bewachsen. Sie stieg hinauf, und oben anglangt fand sie auch gleich das Einstiegsloch in der Erde. Heute erschien ihr die Öffnung wie ein Auge mit einem Wimpernrand. Wie eine Augenhöhle, aus der es aber nicht herausschaute, sondern die sie gleichsam hineinzuziehen schien. Adlerfrau bekam Lust, Sträucher und Bäume um den Eingang in die untere Welt zu pflanzen, um ihn vor unerwünschten Blicken zu schützen.

Achtsam betrat sie den Durchlass. Nackte schwarze Erde bildete die Tunnelwände, und zuerst war es drinnen recht niedrig und eng. Vorwärts kriechend fühlte Adlerfrau die feuchte, krümelige Erde auf ihrer bloßen Haut. Doch schon bald konnte sie aufrecht gehen, und sie sah die ersten Pflanzen auftauchen. Zunächst waren es nur vereinzelte Gewächse hier und da, doch dann wurden es immer mehr. Je weiter sie vordrang, desto enger beieinander wucherten die Pflanzen, bis am Ende jeder freie Fleck mit Grün bedeckt war.

Die Pflanzen, die hier wuchsen, waren von einem sehr dunklen, wie mit Schwarz überschatteten Grün. Adlerfrau erkannte Efeu, der an den Wänden hochrankte und sich am Boden längs wand. Kleine Kiefern standen dort, Eibenbüsche, und zwischendrin war alles von dunklem Moos bedeckt. Aber auch hier wuchsen ab und an ein paar unscheinbare Kamillenblüten dazwischen.

Mit jedem Schritt knickte und zerdrückte Adlerfrau Stiele und Blätter unter ihren Füßen, und wie zur Antwort stieg wunderbarer, dunkler Duft herauf. Sie fühlte sich sehr wohl und geborgen in diesem aromatischen Wildwuchs und wünschte sich, länger verweilen zu können. Gleichzeitig jedoch drängte es sie, weiterzukommen, und sie bat Adlermutter, von ihren Schultern herabzusteigen und sie zu führen.

Die Adlerin stieg also herab und ging dann auf den Füßen vor ihr her, aber das erschien Adlerfrau bald viel zu langsam. Also kamen sie beide überein, dass nun Adlerfrau auf den Rücken der Adlerin klettern solle. Augenblicklich ging die Reise im Flug weiter, und gleich darauf verließen sie die Erde.

Sie flogen durch himmelblaue Sphären und durchstießen deren Hüllen, die wie Seifenblasen waren, eine nach der anderen, ohne dass diese zerplatzten. Das ging scheinbar endlos weiter, Sphäre auf Sphäre, bis sich Adlerfraus Ungeduld in Ergebung verwandelte.

Da tauchte in der Ferne das Bildnis eines Gottes auf. Es war der Gott aus Adlerfraus Kindheit, den sie damals oft in ihren Träumen gesehen hatte. Eine riesige Skulptur aus verwittertem, grauen Gestein in der Gestalt eines Buddhas im Lotussitz, mit einer Kopfbedeckung oder Haartracht, wie sie in Südostasien bei Buddhafiguren üblich ist. Vor dem setzte die Adlerin sie ab.

Adlerfrau war etwas eingeschüchtert von der Größe des Gottes. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie mit ihm sprechen konnte. Also stellte sie sich zunächst einmal vor. Dann fragte sie ihn nach der Bedeutung seiner Religion. Er erklärte ihr, dass er des ewigen Lebenskreislaufes müde geworden sei und deshalb beschlossen hätte, daraus auszusteigen. Adlerfrau fragte auch nach dem Tod und was danach kommt. Es war ihr aber unmöglich, verstandesmäßig klar zu erfassen, was er ihr daraufhin antwortete. Nur einen Satz begriff sie deutlich: ALLES WIRD GUT!

Sie beschloss, ihrem Kopf eine Ruhepause zu gönnen und diesem Gott einfach ihre Ehrerbietung darzubringen. Also ging sie auf die Knie und berührte mit ihrer Stirn den Boden zu seinen Füßen und fühlte sich dabei sehr gelöst, vertrauensvoll und irgendwie kindlich.


Nach einer Weile der stillen Anbetung fiel ihr ein, dass sie die Gelegenheit nützen könnte und bat ihn, sie zu segnen. Nach dem ersten Segen verlangte sie noch zwei weitere. Es fühlte sich so gut und kraftspendend an, gesegnet zu werden, sie hätte ewig so weiter machen können. Aber irgendwann musste sie dennoch zurückkehren.
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