02 Januar 1997

Erste Reise

Der Eingang in die Untere Welt war da, wo Adlerfrau ihn schon mal in einem Märchen gefunden hatte. Sie betrachtete die großen, graugelben, fast würfelförmigen Felsbrocken noch einmal genau. Wasser rann darüber und gefror sogleich zu einer Eisschicht, und die Tropfen verwandelten sich unter ihren Augen zu herabhängenden Eiszapfen. Die Flechten und Moose schienen sich in sich selber zurückgezogen zu haben, und die kleine, verkrüppelte Kiefer duckte sich auf dem Hügel. Die Öffnung selbst war von einem fransigen Kranz von Pflanzenbüscheln umgeben, braun, verdorrt und filzig.

Adlerfrau stieg hinein und stellte erst jetzt fest, dass sie völlig nackt war. Es war stockdunkel, und der Eingangsbereich umschloss sie sogleich wie schwarzer Samt, die Berührung war ihr äußerst angenehm. Tausende von winzigen Händchen schienen sich aus den Wänden zu recken, um sie zu liebkosen und langsam weiter zu schieben. Dabei hörte sie ein vielfältiges Gewisper ringsherum. Es war wohlig warm und feucht, und sie hatte den Gedanken, wie in einem endlos langen Darm von einer Peristaltik mit den Füßen voran bewegt zu werden.

Irgendwann kam sie in einer mit warmem Wasser gefüllten Mulde zum Sitzen. An dieser Stelle drang von oben diffuses Licht herein, und vor ihr befand sich eine runde Öffnung, durch die es offensichtlich weiter ging. Sie erhob sich und stieg hinein. Diesmal bewegte sie sich mit dem Kopf voran weiter abwärts und begann zu gleiten wie auf einer Wasserrutschbahn. Adlerfrau breitete die Arme aus und hatte die Empfindung zu fliegen und rutschte dabei immer weiter auf ihrem nackten Bauch in dem Wasserrinnsal hinab. Sie fühlte sich wunderbar.

Schließlich endete diese Rutschpartie in einem unterirdischen See, der den Boden einer riesigen Höhle bedeckte, deren anderes Ende sich in Dunkelheit verlor. Im helleren Teil hatte das Licht eine blassgrüne Färbung, ebenso wie das Wasser. Adlerfrau stieg aus dem See und kletterte rechterhand auf ein breites Sims, das zu beiden Seiten der Höhle entlanglief und blickte von dort aus noch mal ins Wasser zurück.

In diesem Augenblick kam ein ziemlich kolossales Krokodil heran geschwommen, und Adlerfrau war im ersten Moment sehr froh, aus dem Gewässer heraus gestiegen zu sein. Dann fiel ihr aber ein, dass man ihr gesagt hatte, keines der Wesen in der Unteren Welt würde ihr Böses wollen.

Das Sims wurde zum hinteren Teil der Höhle hin auch immer schmaler, bis es ganz in der Felswand verschwand. Ohne noch länger darüber nachzudenken, sprang Adlerfrau wieder zurück ins Wasser. Das Krokodil schwamm sogleich unter sie, und sie hielt sich an seinem Rücken fest. Die harte, geschuppte Haut des Reptils fühlte sich sehr angenehm an, als sie sich bäuchlings darauf legte. Mit großer Geschwindigkeit trug sie das Tier voran.

Im dunklen Teil der Höhle wurde der See immer schmaler, der Raum immer mehr zum Tunnel. Ganz plötzlich ergoss sich das Wasser in blendender Helle ins Freie und stürzte in einem Riesenwasserfall in die Tiefe. Adlerfrau fiel mit und wusste gar nicht, wann sie das Krokodil losgelassen hatte. Unten landete sie sicher in einem kleinen Teich, dessen Becken von einem Wall aus rundlich geschliffenen, grauen Steinen gesäumt war.

Zwischen den Steinen wuchs glänzend smaragdgrünes Moos, und um den Tümpel herum zeigte sich eine üppige Dschungellandschaft in leuchtenden Grüntönen. Adlerfrau setzte sich auf einen der Steine am Wasserbecken und schaute sich um. Ihr fielen einige kleine rote Flecken in all dem saftigen Grün auf. Einer von ihnen kam direkt auf sie zu, und es war eine Art Fliegenpilzmännlein mit einem weißgepunkteten, roten Hut auf dem Kopf. Der kletterte ihr zuerst auf den Schenkel, dann auf die Hand und wisperte ihr schließlich ins Ohr, dass er einen Gruß für sie hätte von der braunen Mutter Erde. Diesen Gruß übermittelte er ihr in Form eines Duftes, den er selbst ausströmte, ein Geruch nach Pilz, Wald und Erde.

Adlerfrau atmete diesen Duft tief ein, und er machte sie sehr glücklich und zufrieden.
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