30 Januar 1997

Vierte Reise

Die Landschaft wirkte heute ausgesprochen hell und freundlich, Vorfrühlingsahnung lag in der Luft. Der Himmel war weit und offen, Vögel flogen darüber hin und zogen ihre Bahnen. Die Atmosphäre war angenehm frisch und kühl, und eine leichte Luftbewegung war zu spüren.

Adlerfrau stieg langsam auf den kleinen Hügel und blickte an seiner höchsten Stelle auf die Einstiegsöffnung. Hier – ebenso wie im Land ringsherum – wuchs frisches, noch ganz zartes Grün, aber mit einigen winterlichen Spuren dazwischen. Adlerfrau schnupperte den Duft der Erde. Das Einstiegsloch in die untere Welt erinnerte sie an eine Gebäröffnung, an die Vulva der großen Mutter.

Sie stieg langsam und vorsichtig hinein und konnte gleich aufrecht stehen und geradeaus weitergehen. Aber es war völlig dunkel, und sie tastete sich an den Wänden entlang, welche sich ebenso wie der Untergrund ganz warm, weich und feucht anfühlten. Adlerfrau ließ es heller werden und konnte nun sehen, dass ihre Umgebung rosiges Fleisch war.

Sie verlangsamte ihren Schritt, bewegte sich vorsichtig vorwärts und legte ihre Hände auf die Seitenwände um zu spüren. Sie bat auch Adlermutter, ihre Flügel auszubreiten und fühlend über die Tunnelwände zu streichen.

Schließlich kamen beide an ein Tor, das aus einem dicken, faltigen Ring bestand. Adlerfrau schaute genau hin und sah die rosige Feuchtigkeit mit einigen verstreuten senfgelben Flecken darauf. Sie strich liebevoll darüber, um sich gleich danach vorsichtig hindurchzuzwängen. Auf der anderen Seite kam sie in dem schmalen Ausläufer einer Höhle heraus, die sich alsbald dahinter weitete. Nun wusste sie sicher, dass sie in ihrer eigenen Gebärmutter angekommen war.

Die Höhle war von bräunlichrosa Färbung und mit einer Art hellerem Netz vollständig ausgekleidet. Adlerfrau nahm dieses Netz näher in Augenschein und erkannte, dass es aus Fasern bestand, in denen Energie rhythmisch pulsierte. Sie durchquerte die Höhle und verließ diese wieder in einem der hinteren Winkel durch einen anderen Ausläufer, der offensichtlich in einen Eileiter mündete. Dieser war lang, dünn und glatt und von lichter gräulicher Farbe. An seinem Ende fand sie den Eierstock, der aus einem wunderbar rosigen Gewebe war mit etwas Gelb darin und irgendwelchen Fransen seitlich. Sie dachte daran, sich die Anatomie einer Gebärmutter noch mal genauer in einem Buch anzuschauen.

Adlerfrau fühlte eine große Liebe in sich für ihre Organe und ihren ganzen Körper. Sie verließ das Ovarium, wanderte langsam durch den Eileiter und den Uterus auf die andere Seite und fand dort spiegelbildlich alles genauso vor.

Danach kam sie in die Höhle zurück, setzte sich dort auf den Boden und bat Adlermutter, los zu fliegen und sich noch mal alles anzuschauen und zu heilen, was sie selber vielleicht übersehen hatte.

Nachdem der große Vogel los geflogen war, beschloss Adlerfrau, in der Höhle für ihren Uterus zu tanzen, was sie sogleich in die Tat umsetzte. Unterdessen tauchte plötzlich Baba Yaga, die Hüterin ihrer Gebärmutter auf, und die beiden umarmten sich liebevoll. Adlerfrau fragte, was Baba Yaga wohl brauchen könne, damit sich ihr Gebärorgan noch besser fühlen würde. Nach einigem Zögern sagte diese - und hielt dabei den Blick auf den Boden gesenkt – Adlerfrau solle sich soviel bewegen, wie ihr nur möglich sei, auch tanzen, und sie solle auf ihre Ernährung achten. Dann gab sie ihr einen Feenstein zum Geschenk, einen sechseckig geschliffenen Bergkristall. Adlerfrau bedankte sich, umarmte Baba Yaga nochmals herzlich, und dann tanzten beide zusammen für eine lange Zeit.
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