11 Dezember 1996

Adlerfrau

An diesem Morgen, nach einem aufwühlenden Streit, war sie fix und fertig und brauchte dringend irgendeine Hilfe, aber sie wusste nicht, woher die kommen könnte. Da sah sie in einer spontanen Vision eine mit schwarzem Ölschlamm bedeckte Möwe am Strand liegen, die zum Sterben verurteilt schien. Dieser Vogel tat ihr so von Herzen Leid, dass sie ihn hochnahm und begann, ihn voller Mitgefühl zu reinigen.
Hingebungsvoll schäumte sie die Möwe mit einem speziellen Shampoo ein. Hin und wieder begoss sie den Vogel mit klarem Wasser, um nachzusehen, ob er schon ganz sauber war. Diesen Vorgang wiederholte sie etliche Male und seifte und massierte den Körper und das Gefieder der Möwe mit sanften Händen.
Endlich war der Vogel ganz sauber, und er kam ihr auf einmal viel größer vor als vorher und sehr prächtig. Auf seinem strahlend weißen Federkleid spiegelte sich das Licht der aufgehenden Morgensonne, und er sah jetzt eher aus wie eine goldene Gans.
Am nächsten Morgen beim Aufwachen fiel ihr als erstes der Vogel wieder ein, und sie schaute gleich nach ihrer goldenen Gans, um zu sehen, ob die noch da wäre, und wie es ihr ginge. Aber sie traute ihren Augen kaum, als sie sah, dass aus der Gans über Nacht ein großer, stolzer Adler geworden war mit ebenso schneeweißem Gefieder, einem mächtigen, gebogenen Schnabel und großen, scharfen Krallen. Die morgendliche Sonne ließ seine Federn schimmern, und sie konnte alle Farben darin sehen, vor allem aber Goldorange, Rosa und Türkis.
Zunächst konnte sie es gar nicht fassen, dass ein so herrliches Tier zu ihr gekommen war. Trotzdem spürte sie sogleich das Bedürfnis, den Adler bei sich zu behalten. Sie fertigte sich etwas Entsprechendes an, sodass der große Vogel auf ihren Schultern sitzen konnte, ohne sie zu verletzen.Von diesem Moment an bildeten der Adler und sie eine Einheit. Sie konnte ihn zu jeder beliebigen Zeit auf ihren Schultern spüren. Sie konnte ihn aber auch frei fliegen lassen, z.B. beim Spazierengehen oder Autofahren, ohne dass er sie verließ. Manchmal hatte sie den Eindruck, mit dem Adler zu einem Wesen zusammengewachsen zu sein, und sie fühlte sich stark, leicht und frei und wurde selber zur Adlerfrau.

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