19 Januar 1997

Dritte Reise

An der Einstiegsöffnung war es heute deutlich wärmer. Dicke, saftiggrüne Grasbüschel wuchsen aus jeder Ritze und milderten die scharfkantige Gestalt der würfelförmigen Felsen. Adlerfrau war wiederum unbekleidet, so wie sie auf die Welt gekommen war. Die Wände des Eingangstunnels bestanden dieses Mal aus fetter, schwarzer, krümeliger Erde, die einen besonders fruchtbaren Eindruck machte.

Adlerfrau rutschte und kroch durch den Schacht und schob sich mit den Füßen voran immer weiter. Es war warm und feucht hier drin, es herrschte ein richtig tropisches Urwaldklima, und es roch stark nach Wald, Erde und abermals irgendwie auch nach Pilzen. Sie fühlte sich sehr wohl und geborgen in dieser Umgebung.

Schließlich endete der Tunnel erneut in einer Höhle, die sich dieses Mal flach und rund wie eine Linse vor ihr ausdehnte. Der ganze Boden stand unter Wasser. Jetzt war es aber kein unterirdischer See, sondern das Wasser war vermischt mit der fetten, krümeligen Erde, sodass Adlerfrau knöcheltief in schwarzem, fruchtbaren Urschlamm watete. Ringsum waren unzählige Öffnungen in den Höhlenwänden zu sehen, und Adlerfrau hatte zunächst Schwierigkeiten, sich für eine zu entscheiden.

Schließlich wählte sie einen Durchlass im hintersten Bereich. Sie betrat einen Gang, der wie der vorige mit schwarzer Erde bedeckt war. Nachdem sie eine Strecke weit spaziert war, kriegte sie Lust, sich mit dieser Erde am ganzen Körper einzureiben, und das tat sie lange und ausgiebig.

Als Nächstes entdeckte sie die ersten Efeuranken von der Decke hängend, und je weiter sie vorrückte, umso dichter wurde der Bewuchs mit diesen Ranken, bis diese jeden einzelnen Fleck zu bedecken schienen. Auch andere Pflanzen wuchsen dazwischen, und am Ende war alles grün. Adlerfrau erkannte unter Anderem große Bananenstauden, und auf dem Weg wuchsen Kamillenpflänzchen, die beim drauf Treten einen intensiven, köstlichen Duft verströmten. Zahlreiche Käfer krabbelten dazwischen herum.

Sie genoss ihren Spaziergang in diesem üppigen Urwaldgrün und ließ sich viel Zeit dabei. Nach und nach nahm der Bewuchs jedoch ab, wurde immer spärlicher, und die Luft wurde kühler und frischer. Die jetzt kahlen Wände waren aus festem Felsgestein, und der Gang machte auf einmal eine scharfe Krümmung nach oben.

Und wieder flog Adlerfrau in diesem Schacht in die Höhe, bis sie aus einem Durchschlupf auf einer Hügelkuppe ins Freie kam. Dort schwebte sie noch etwas länger in der Luft herum, weil sie keine Lust verspürte zu landen. Dabei löste sich auf einmal die Adlerin von ihren Schultern und flog mit ihr immer im Kreis, sich von der Thermik tragen lassend. Später trudelten sie durch die Lüfte, machten Sturzflüge und jagten sich, bis sie mitten im wilden Spiel einander gegenüber waren und sich in die Augen blickten. Da sagte Adlerfrau, einem unvermittelten Bedürfnis folgend: „Adlermutter, segne mich!“ Das tat diese auch, und gleich darauf sausten beide wie zwei Raketen zur Sonne.

Dort oben flogen und schwebten sie in dem läuternden Feuer, das die Sonne ist, eine Zeit lang miteinander, ohne sich dabei zu verbrennen. Auf dem Rückflug setzte sich die Adlerin wieder auf die Schultern von Adlerfrau, und beide verschmolzen erneut zu Einer.
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